Ich erwache wie jeden der letzten 167, oder waren es schon 168, Tage mit demselben unangenehmen Gefühl. Feuchte Kälte, die mich umhüllt wie der dichte Nebel eines Herbstmorgens, der über den Äckern des Umlandes wabert. Die kleine Luke, deren Öffnen einen kurzen Moment meine Zelle erleuchtet, wird wieder geschlossen und
die mir seit sehr langer Zeit bekannte, tiefe Schwärze umgibt mich. Ich taste nach der Schüssel und dem Krug, die mein Wärter, dessen Gesicht ich nicht kenne, durch die Luke geschoben hat. Noch bevor ich meinen Durst mit dem schalen, abgestandenen Wasser stille, ritze ich einen weiteren Strich in das raue Holz der Zellentür. Meine Finger tasten über die dort schon zu Hauf angebrachten Linien. Den zehnten habe ich immer diagonal angebracht, was mir das Zählen erleichtert. Es waren 168 Striche. Wenn meine Berechnungen stimmen, ist heute der 15. Februar 1515. Der Tag der Urteilsverkündung. Ich, Catharina Reizenfeld, bin der Hexerei angeklagt und mir ist bewusst, dass dieser 15. Februar der letzte meines kurzen, gerade mal 20 Jahre dauernden Lebens werden würde.

Ich war keine Hexe. Damals im Jahr 1515 zumindest noch nicht. Wenn ich heute zurückblicke auf diesen Tag, kann ich mich an eines sehr gut erinnern. An diesem Morgen, ich meine es war ein Freitag, hatte ich keine Angst zu sterben. Im Gegenteil. Ich freute mich sogar auf den Scheiterhaufen. Mein Schicksal war sowieso besiegelt. Und jetzt stellt euch vor, ihr würdet 168 Tage lang, 24 Stunden am Stück, einschließlich der wenigen Zeit, in der euch ein tiefer Schlaf übermannt, zittern und nichts anderes als Kälte spüren, die sogar euer Herz langsamer schlagen lässt. Glaubt ihr nicht auch, dass die Aussicht auf ein klein wenig Wärme euch glücklich machen würde, obwohl sie euren Tod bedeutet?

Ich hatte mich damit abgefunden zu sterben. Als sie mich an diesem Morgen in den fensterlosen, mit Fackeln erhellten Raum führen, in dem schon meine Verhandlung stattgefunden hatte, wusste ich, dass mir nur noch die Suche nach einem Hexenmal bevorstehen würde, dann wäre endlich alles vorbei. Der Henker reißt mir die letzten Fetzen meines Kleides, auf dessen Schürze noch immer das Blut meines Geliebten haftet, vom Leib und ich stehe nackt inmitten einer applaudierenden Menge. Bei jeder einzelnen Haarsträhne die man mir abschneidet beginnen sie zu kreischen und zu johlen. Der Henker legt theatralische Pausen ein, dann folgt der nächste Schnitt. Mit von Tränen verschleiertem Blick sehe ich tieftraurig auf den Haufen blonder Locken, die um meine nackten Füße verstreut auf dem eiskalten Steinfußboden liegen. Als ich den Kopf hebe, sehe ich direkt in ihr Gesicht. Die Frau, der ich meine Verurteilung zu verdanken habe, lacht mich triumphierend an und streicht mit dem ausgestreckten Zeigefinger über ihre Kehle. Ihre tiefgrünen Augen funkeln dabei wie
zwei Smaragde. Ihr zuerst stummes Lachen wird lauter und lauter. Sie schüttelt den Kopf mit dem hochgesteckten, rabenschwarzen Haar, das ihr, wenn es geöffnet ist, bis zu den Oberschenkeln fällt. Sie ist hübsch und nach der landläufigen Meinung des Volkes entspricht ihr Aussehen eher dem einer Hexe, als meines es jemals hätte tun können.

Solltet ihr Euch nun fragen, wie ich in diesem Dilemma landen konnte, so ist diese Geschichte schnell erzählt. Ich war elf, als mein Vater starb. Meine Mutter hatte ich nie kennengelernt. Sie war schon bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater war Knecht auf einem Bauernhof vor den Toren der Stadt Schorndorf, die zur damaligen Zeit zum Bistum Konstanz gehörte. Als Vater starb, haben mich die Bauersleute, bei denen er im Dienst stand, in ihre Obhut genommen. Es waren sehr freundliche und liebenswerte Menschen, obwohl sie manchmal mit ihrem Schicksal haderten und sich oft fragten, warum Gott ihnen nur einen einzigen Sohn geschenkt hatte. Matthias war vier Jahre älter als ich und wir wuchsen auf wie Bruder und Schwester. Genauso liebten wir uns auch. Eine Geschwisterliebe, die tief und innig war. Keiner von uns hätte ahnen können, was sich aus unserer Verbundenheit ein paar Jahre später entwickeln würde.

Ich war siebzehn und schon lange kein Kind mehr. Ein Spätsommer wie aus dem Bilderbuch. Die Ernte war eingebracht und wir rannten barfuss über die abgemähten Stoppeln eines Roggenfeldes zur nahen Rems. Es war heiß an diesem Tag. Matthias hielt meine Hand und sein lausbubenhaftes Grinsen war so typisch für ihn. Kaum, dass wir im Schatten des mit hohen Bäumen bewachsenen Ufers angekommen waren, ließen wir unsere Kleider unbedarft fallen und stürzten uns nackt in die kühlen Fluten des Flusses. Wir tobten wie die kleinen
Kinder. Vermutlich hatte man unser Lachen bis an die Stadttore hören können. Matthias hob mich hoch, um mich wieder ins Wasser zu werfen, aber plötzlich hielt er inne. Behutsam ließ er mich ins Wasser gleiten und ich spürte den mit Steinen bedeckten Grund unter meinen bloßen Füßen. Seine Hände lagen auf meinen Hüften, die vom Wasser der Rems zärtlich umspült wurden. Lange sah er mich ernst an, dann sagte er: >Catharina, ich liebe Dich!<

Diese Worte höre ich noch heute. Seine Lippen legten sich auf meine und das Gefühl, das meinen Körper durchströmte, als seine Zungenspitze die meine berührte, trug meine Sinne auf einer kleinen, langsam über uns hinweg ziehenden weißen Wolke davon. Als wir lange Zeit später voneinander ließen, war ich diejenige, die ihn ernst ansah. >Matthias, du weißt ganz genau, dass wir das nicht tun dürfen.< Tränen liefen mir bei jedem meiner Worte aus den Augen, >Du bist Ursula versprochen.< Ursula Schertling war die älteste Tochter eines der reichsten Bauern in der Gegend. Die Heirat zwischen ihr und Matthias war schon kurz nach Ursulas Geburt beschlossene Sache. Die Väter waren sich bei einem großen Krug
Wein in der Dorfschenke schnell einig gewesen. Ursula war zwei Jahre jünger als ich und eine schwarzhaarige Schönheit. Die Hochzeit sollte an ihrem 18. Geburtstag stattfinden. Matthias und mir blieben also noch drei Jahre, die wir heimlich genießen und uns einen Plan zur Flucht ausdenken konnten.

Damals dachten wir, wir hätten ewig Zeit, aber die Jahreszeiten flogen vorüber und im März 1514 lernte Matthias einen Tagelöhner namens Peter Gais kennen. Er war ein charismatischer Mann niederen Standes, dessen aufständische Reden nicht jedermann gefielen, aber ich war sofort gefangen in seinen Geschichten, wenn er zu erzählen begann. Die ständige Erniedrigung der Unterschicht, zu der wir alle gehörten, die ansteigenden Steuern und die Reduzierung der Maßeinheiten, die Herzog Ullrich einführte, brachten großen Unmut unter das gemeine Volk. Peter war es leid gewesen, sich immer zu fügen. Er war der Mann, der die Bauern zum Aufstand rief. Ich war damals eine der einzigen Frauen, die zu seinem Kreis gehörten und mit vor Eifer geröteten Wagen und einer Mistgabel in der Hand, zwischen Matthias und ihm stand, als ungefähr 300 – 400 Bauern die Stadt Schorndorf besetzten. Wir waren junge Rebellen und fühlten uns unverwundbar. Einige Wochen später lag ich neben Matthias auf einem prall gefüllten Strohsack. Wir hatten uns gerade geliebt und ich war sowohl müde, als auch trunken vor Glück. >Wenn das alles vorbei ist<, sagte er, >gehen wir weg von hier. Vielleicht nach Konstanz. Auf jeden Fall weit genug weg von Vater, Mutter und Ursula. Wir werden heiraten und ein glückliches Leben führen.< Ich schloss die Augen und träumte von einem Hof und unseren Kindern. Dieser Traum allerdings war schon am nächsten Tag ausgeträumt, als der abgetrennte Kopf von Matthias in meinen Schoß fiel. Aus der großen Menschenmenge war er neben neun Anderen einfach zufällig ausgewählt worden und er verlor sein Leben für die Sache, hinter der er mit ganzem Herzen stand. Das Blut auf meinem Kleid war noch nicht getrocknet und ich saß schon seit Stunden auf der schmutzigen Erde vor den Toren Schorndorfs und streichelte sein Haar, als ich verhaftet und in einen der Stadttürme gesperrt wurde. Ursula, die mir die Schuld am Tod von Matthias gab, hatte mich der Hexerei bezichtigt. Diese Beschuldigung kam Herzog Ullrich gerade Recht, denn ich war die einzige Frau unter den engsten Anhängern des Gaispeters, der zum Glück rechtzeitig fliehen konnte. Es widerstand dem feinen Herzog, eine Frau zu köpfen. Ich hatte keine Chance auf eine gerechte Verhandlung und meine Verurteilung stand schon von Anfang an fest.

Noch immer lacht Ursula ihr höhnisches Lachen. Als sie sich ein wenig beruhigt zu haben scheint, schreit sie plötzlich mit sich überschlagender Stimme: >Auf den Scheiterhaufen mit ihr! Sie trägt die Brut des Teufels in sich!< Mittlerweile knie ich zwischen meinen abgeschnittenen Locken auf dem Boden und fahre sanft über meinen gewölbten Bauch. Meinem ungeborenen Kind flüstere ich zu: >Du bist nicht die Brut des Teufels. Dein Vater Matthias war ein ehrenwerter Mann und er war ein Held.< Dann werde ich an beiden Armen hochgezogen und zum Scheiterhaufen geschleppt, der schon am Vortag auf dem Marktplatz aufgeschichtet worden war. Ich singe leise das Kinderlied, das mir mein Vater beigebracht hatte und lasse mich ohne Gegenwehr an den Holzpfahl auf dem höchsten Punkt des Reisighaufens festbinden. Ursula steht direkt unterhalb in der ersten Reihe neben ihrem Vater.
Jetzt ist ihr Blick ausdruckslos. Irgendwie wirkt sie gelangweilt. Ich denke schon, sie wird sich gleich umdrehen und nach Hause gehen, aber Ursula bleibt. Die ersten Flammen züngeln im Reisig und ich sehe den Widerschein des Feuers in Ursulas smaragdgrünen Augen schimmern. Mir wird warm. Endlich, nach 168 Tagen eisiger Kälte wird mir zum ersten Mal warm. Als der Umhang, den man mir nach der Rasur und der Untersuchung übergeworfen hatte, Feuer fängt, beginne ich zu beten. Ein gleißendes Licht umfängt mich und ich falle. Tief und immer tiefer.

Wieder spüre ich eisige Kälte. Langsam öffne ich die Augen und schaue in das besorgte Gesicht von Ursulas Vater. >Alles in Ordnung mit dir Liebes?<, fragt er. Den nebenstehenden Leuten, die von oben auf mich herunterstarren, befielt er: > Bringt sie nach Hause. Die Hinrichtung war wohl doch zuviel für sie.< Ich spüre noch, wie man mich hochhebt, dann wache ich erst wieder auf, als viele Hände mich in ein weiches Bett legen. Ich gebe vor zu schlafen. Als ich endlich in der Kammer alleine bin, stehe ich auf, gehe zur Kommode über der die  Wangen.
Was genau an diesem 15. Februar 2015 passiert ist, kann ich bis heute nicht erklären, aber seit diesem Tag vor über 500 Jahren reise ich durch die Welt und erzähle Menschen wie euch meine Geschichte.