Der Weg wurde immer steiler und ein eiskalter Wind suchte sich seinen Weg durch die dicht stehenden Bäume. Laura fröstelte. Dicht neben ihr raschelte es. Sie blieb erschrocken stehen. Laura drehte sich um. Der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe schwenkte suchend über den Weg, den sie gerade gegangen war. Er war leer. Angst kroch in ihr hoch und schnürte ihre Kehle zu. Sie versuchte zu schreien, brachte aber nur ein leises Krächzen zustande. Lauras Atem wurde schneller. Sie schluckte und der Kloß in ihrem Hals löste sich. >Wo seid ihr?< schrie sie, so laut sie konnte und lauschte. Keine Antwort. Wieder raschelte es neben ihr. >Peter … Simone … Ich finde das nicht lustig.< Noch einmal schwenkte sie die Taschenlampe über den schmalen Trampelpfad, der nach unten zum Parkplatz führte. Noch immer war der Weg leer. >Wo seid ihr?< rief Laura noch einmal so laut sie konnte und noch einmal hörte sie nur das Rascheln, das ihr immer unheimlicher wurde.

>Buh!< Erschrocken trat Laura einen Schritt zurück und wäre beinahe gestolpert. Die zwei dunklen Gestalten, die plötzlich neben ihr aufgetaucht waren begannen lauthals zu lachen. Die Angst, die sie eben noch empfunden hatte machte einer Wut Platz, die von Sekunde zu Sekunde wuchs. >Seid ihr komplett bescheuert?<, schrie sie und machte so ihrem Ärger Luft. >Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.< >Dafür bist du viel zu jung!<, sagte Peter mit einem breiten Grinsen. >Du brauchst mir keine Komplimente zu machen. Davon wird es auch nicht wieder gut … Ich würde am liebsten umkehren.< >Kommt nicht in Frage!< Simone hakte Laura unter und zog sie weiter den Berg hinauf. >Es war deine Idee zur Burg zu gehen, nicht unsere.<

Keine zehn Minuten später standen sie vor der mächtigen Eingangstür. Ein Flattern über ihren Köpfen ließ sie nach oben schauen. >Ist es das was ich denke?<, fragte Simone. >Fledermäuse!< bestätigte Peter ihre Vermutung und beobachtete fasziniert wie ungefähr zwanzig dieser Tiere den mondbeschienenen Burgturm umkreisten. >Schließ auf!< drängelte Simone. >Das ist unheimlich!< Peter kam ihrer Bitte nach und kaum, dass die Tür einen schmalen Spalt geöffnet war, schob Simone sich ins Innere der Burg. >Igitt! Nimm das weg von mir!< schrie sie einen Moment später und strich sich mit beiden Händen über ihr kaltes Gesicht. >Ich hasse Spinnen!<

Plötzlich wurde die eben noch stockdunkle Halle von einem angenehm warmen Licht erhellt. Simone atmete erleichtert auf und wischte sich die restlichen Spinnweben aus ihrem Gesicht. >Ich bin zwar keine Angsthase, aber ich mag weder Mäuse noch mag ich Spinnen<, erklärte sie entschuldigend. >Dann lass mich dieses hübsche Exemplar aus deinen Haaren nehmen<, erwiderte Peter lachend. Simone, die vermutete, dass er ihr nur Angst machen wollte, lachte mit, verstummte aber sofort, als sie das riesige schwarze Etwas in seiner hohlen Hand sah. Behutsam setzte Peter die Spinne auf dem Boden ab. Es dauerte einen Moment, bis sie sich in Bewegung setzte, den Raum durchquerte und hinter einer hohen Vitrine verschwand.

>Ich bleibe keine Minute länger in einem Raum mit diesem Monster!< Simone wandte sich unter den amüsierten Blicken von Laura und Peter zum Gehen, aber Peter hielt sie zurück. >Nein, nein Fräulein, du bleibst schön hier. Weißt du eigentlich wieviel Überredungskunst es mich gekostet hat, den Schlüssel für die Burg zu bekommen? Frau Schwarz hat sich angestellt, als hätte ich die Kronjuwelen von ihr verlangt. Ich musste sie mit einem großen Blumenstrauß und einer Schachteln Pralinen bestechen.< >Aber du bist der Sohn des Bürgermeisters.< >Das ist nicht immer ein Vorteil, kam mir dabei aber sicherlich zu Gute.< Laura, die zu Besuch bei ihrer Freundin war, hatte unbedingt herkommen wollen und so lange gebettelt, bis Simone nachgegeben und mit Peter telefoniert hatte.  Der schloss gerade  die Eingangstür ab und drehte sich dann zu den Mädchen um. Simone stieg  langsam die Treppe hinauf, ohne den Blick von der hohen Vitrine zu nehmen, hinter der die Spinne verschwunden war. Laura stand bereits oben vor einem der Ölgemälde, die dort hingen. Langsam drehte sie sich um und stammelte mit weit aufgerissenen Augen: >Das müsst ihr euch ansehen!< Simone warf noch einen ängstlichen Blick auf die Vitrine, dann gab sie sich einen Ruck und rannte die letzten Stufen hoch.

Laura hatte den Blick wieder dem Gemälde zugewandt und zeigte mit einem zitternden Finger darauf. >Das gibt’s doch gar nicht!< Simone glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Konnte es sein, dass das Bild neu aufgehängt worden war? Sie war schon des Öfteren hier gewesen, aber dieses Gemälde war ihr noch nie aufgefallen. Vielleicht hatte sie es auch noch nie richtig angesehen.  Peters lauter Pfiff ließ die beiden Mädchen zusammenzucken. >Wusste ich es doch, dass ich dein Gesicht schon mal irgendwo gesehen habe<, sagte er und verbeugte sich vor Laura.  >Herzlich Willkommen Lady Elisabeth!< Simone kicherte, während der Bick ihrer Freundin immer noch auf das Bild gerichtet war, unter dem ein Messingschild mit dem eingravierten Namen Elisabeth von Waldenstein hing. Die traurige Geschichte von Elisabeth und Stefan kannte Laura aus dem Buch, das Simone ihr geschenkte hatte und das der Grund war, warum sie unbedingt die Burg besuchen wollte. Dass sie die Zwillingsschwester der Burgherrin hätte sein können, ließ Laura frösteln. Die Frau auf dem Bild sah haargenau aus, wie sie selbst. Sogar der kleine Leberfleck unter Lauras rechtem Auge hatte dieselbe Form und Größe, wie der von Lady Elisabeth. Das Licht der Lampen, die wie Fackeln aussahen und den langen Flur erhellten, flackerte. Irgendwo draußen schrie eine Eule. >Das ist mehr als unheimlich.  Lasst uns gehen<, bat Laura. Simone und auch Peter nickten stumm.

Ein lautes Scheppern hallte durch den langen Flur und gleichzeitig setzten sich die drei in Bewegung. Sie rannten die Treppen nach unten auf die Eingangstür zu. Hektisch suchte Peter in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Wieder hörten sie dieses seltsame Scheppern, allerdings schon viel näher. >Mach doch schneller!< schrie Simone panisch. >Da kommt jemand. Ich hab Angst!< Peter hatte den Schlüssel endlich gefunden, steckte ihn mit zitternden Fingern ins Schloss und versuchte ihn zu drehen. Nichts passierte. Er rüttelte an der Klinke, versuchte wieder den Schlüssel zu drehen. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen, obwohl es hier drinnen kalt war. Peter drehte sich zu dem immer näher kommenden Geräusch um, während er weiter versuchte, die Tür zu öffnen. Jetzt nahm er neben dem Scheppern und Klirren auch schlurfende Schritte wahr. Simone zog an Peters Arm. >Schließ jetzt sofort auf!< >Was glaubst du, was ich die ganze Zeit versuche?< Er zog hektisch den Schlüssel aus dem Schloss, spuckte darauf und rieb ihn an seiner Jeans. Überraschend ruhig steckte Peter den Schlüssel erneut ins Schloss, drehte ihn und nahm triumphierend ein leises Klicken wahr. Er riss die Tür auf und Simone stürmte sofort an ihm vorbei ins Freie. >Laura, mach schnell!< rief Peter und folgte Simone nach draußen. Kurz hinter der Tür blieb er stehen, um zu sehen, ob Laura ihm folgte. Aber Laura hatte ihm den Rücken zugewandt und ging langsam auf eine Gestalt zu, deren Anblick Peter das Blut in den Adern gefrieren ließ. Neben dem Gemälde Elisabeth von Waldensteins stand ein Ritter, dessen blankpolierte Rüstung im Schein der flackernden Lampen gespenstisch funkelte. In der einen Hand hielt er einen Strauß roter Rosen, in der Anderen seinen Kopf. Alles schien so unwirklich und erinnerte Peter an den Eingang einer schlecht gemachten Geisterbahn.

Er schloss die Augen, kniff sich in die Wangen und hoffte, dass er träumte. Als er die Augen wieder öffnete, sah er gerade noch, wie Laura beinahe bei dem Ritter angekommen war. >Laura! Was machst du. Komm!< konnte er noch rufen, dann fiel die Tür ins Schloss.

>Wo ist sie?< fragte Simone beinahe tonlos. Peter hob den Arm und zeigte auf die geschlossene Tür. >Wir müssen ihr helfen!< Simones Stimme zitterte, aber sie ging entschlossen auf die Tür zu, drückte die Klinke nach unten und rüttelte daran. Sie bewegte sich keinen Millimeter. >Hilf mir doch!< schrie sie Peter an, der im nächsten Moment schon neben ihr stand und sie von der Tür wegzog. >Wir beide alleine können nichts tun. Wir müssen Hilfe rufen. Gib mir dein Handy!< >Der Akku ist leer!< >Mist, meins liegt im Auto.<

Peter achtete nicht auf die kleinen Äste, die rote Striemen auf seinen Wangen hinterließen. Krampfhaft hielt er Simone fest, die dicht hinter ihm herlief. Atemlos erreichten sie den Parkplatz und Peter konnte einen Notruf absetzen. Es dauerte nicht lange, bis zwei Feuerwehrautos an ihnen vorbeirasten. Kurze Zeit später hielt ein Streifenwagen neben ihnen, zwei weitere fuhren in atemberaubendem Tempo Richtung Burg.

>Ihr könnt mir auf dem Weg erzählen, was passiert ist<, sagte einer der Beamten und bat die Beiden hinten einzusteigen.  Er hörte aufmerksam zu, während sein Kollege auf dem Beifahrersitz Notizen machte. >So, so, ein kopfloser Ritter. Warum habe ich nur den Eindruck, dass ihr uns veräppeln wollt? Das Eine sage ich euch. Mir ist egal, ob heute Halloween ist, oder nicht. Wenn an eurer Entführung nichts dran ist, dann kommt euch das sehr teuer zu stehen!< >Glauben Sie mir doch. Er hatte wirklich seinen Kopf unter dem Arm!< Der Polizist, der selbst einen beinahe volljährigen Teenager zu Hause hatte, musste trotz dem Ernst der Lage schmunzeln. Die Jugendlichen waren sehr kreativ, was ihre Halloweenstreiche anging, aber einen kopflosen Ritter hatte es noch nie gegeben.

Als sie die Burg erreicht hatten, wollte Peter sofort aus dem Fahrzeug springen. Einer der Polizisten hielt ihn zurück. >Ihr bleibt so lange sitzen, bis ich euch rufe. Haben wir uns verstanden?< Peter nickte wortlos, während Simone nur ein leises Seufzen von sich gab. Sie saß zusammengesunken neben ihm und schien um sich herum nichts mitzubekommen. Er sah durch die Windschutzscheibe. Gerade stürmten die Polizisten durch die Tür, die die Feuerwehrmänner mit Stemmeisen aufgehebelt hatten.

Peter nahm Simones Hand und drückte sie fest. Angespannt sah er Richtung Burg und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er in der Tür eine Bewegung wahrnahm. >Ich glaube da ist Laura<, sagte er aufgeregt und Simone folgte seinem Blick. Flankiert von zwei Polizisten trat eine Gestalt aus der Burg. Sie trug ein Brautkleid mit einer sehr langen Schleppe. Ein Rosenstrauß lag in ihren Armen. Das Gesicht der Gestalt war blass, aber eindeutig das von Laura. >Was ist mit ihren Haaren passiert?<, fragte Simone leise, schien aber keine Antwort zu erwarten. Simones Augen füllten sich mit Tränen. Das ebenholzfarbene Haar ihrer Freundin war schlohweiß geworden. Langsam stieg Simone aus und ging auf ihre Freundin zu. Sie nahm Laura in den Arm und fragte: >Wie geht es dir?< Simone bekam keine Antwort. Laura würde nie wieder mit ihr oder irgendjemandem sonst reden.

Während sich alle Anwesenden um Laura kümmerten sah Peter nach oben. Die Fledermäuse kreisten noch immer um den Burgturm. Auf einem kleinen Balkon über der Eingangstür entdeckte er den Ritter. Seine Gestalt war im Dunkeln nur schemenhaft zu erkennen, aber der Kopf, den er in den Händen hielt, war im Mondlicht deutlich zu sehen. Peter blinzelte. Er sah Tränen auf den Wangen des abgetrennten Schädels, die im Licht des Mondes wie Diamanten funkelten. Der Ritter winkte ihm zu und noch bevor Peter die Aufmerksamkeit der Anderen auf die Gestalt lenken konnte war sie verschwunden.